Begegnung mit Patir Awakum vom Berg Athos
Wir wurden am Abend ins Gebäude des Abtes zum Essen
geladen. Es gab reichlich, zu reichlich; Lawra ist ein vermögendes,
und, wie der Ausdruck heißt, idiorhythmisches Kloster,
in welchem jeder Mönch auf seine Art wohnt, isst
und trinkt, ohne gemeinsame Tafel; man darf auch Vermögen
und Bedienung besitzen; es ist ohne Zweifel eine Entartung,
ein Abfall von der alten Idee.
Wir saßen also in einem niedrigen Raum, in dessen Winkel sich der Ausgang zur Küche befand ; man sah das
Gewölbe und den offenen Kamin und das flackernde Feuer, wo Fleisch briet. Es gab mehrere schwere Gänge
und einen ziemlich dicken, feurigen Wein.
Aus der Küche drängten die dienstbaren Geister mit Schüsseln;es belustigte uns, dass der Küchenmönch
Lazaros hieß ; immer, wenn irgendwas fehlte, schrie man ‚Lazare! Lazaree!‘- von übler Vorbedeutung,
wie wir bemerkten, da dieser Name die Erinnerung an den Tisch des reichen Mannes beschwor, von dessen
Brosamen sich der arme, schwären- bedeckte Lazarus nährt, die Erinnerung also an dieses unerbittliche,
alle Satten richtende, alle Reichen vom Heil ausschließende Gleichnis drängte sich dermaßen auf,
dass man sich fragte : sieht denn das keiner?
Wir waren mit dem Essen zu Ende, als der Abt anbot, den Pater Awakum aus dem nächtlichen Hofe holen
zu lassen. Eine bizarre Idee: den Asketen zu den Satten zu rufen, also mitten in ihre schwächste Situation.
Doch dem Abt lag anscheinend daran, dass dem berühmten Athener Professor eine Merkwürdigkeit
des Klosters vorgeführt werde. Und schon hatte der Sekretär, ein gewandter, zu fettem Gelächter
neigender Mann, Befehl an die Küche gegeben, man möge Pater Awakum bitten. Und alsbald trat Awakum ein.
Er kam durch die Küchentür und schien mit den dort beschäftigten Leuten einen Scherz gemacht zu haben,
denn er lachte und alle anderen lachten, während er die Küche verließ. Der Abt sagte: ‚Awakum, setz dich her,
wenn du nichts Besseres vorhast; es sind Gäste da, aus Deutschland und aus Athen, und sie wollen sprechen
mit dir. Trink ein Glas Wein mit uns, wenn du willst.‘
Awakum warf den Kopf verneinend in den Nacken zurück, ließ das angebotene Weinglas vorüber gehen
und sagte : ‚König Salomon spricht: ‚Gebt Wein zu trinken denen, deren Herz traurig ist, damit sie ihren Kummer
vergessen und an ihr Elend nicht denken.‘ Ich bin aber keineswegs traurig, heut nicht und niemals, wie du weißt, Abt;
warum also soll ich Wein trinken? Wenn ihr die Melancholie habt so müsst ihr trinken, natürlich. Da ihr alle trinkt,
wie ich sehe, so habt ihr sicherlich Trauer und Sorgen, sonst tränket ihr nicht, so wie ich nicht trinke, denn ich
brauche es nicht.‘
Dagegen war wenig zu sagen, wir lachten und fühlten uns einigermaßen getroffen. Auch der Abt lachte,
als wolle er sagen: Was will man da machen? Der Narr hat auf seine Art recht.
‚Also trinkt!‘ fuhr Awakum fort. ‚Auf eure Gesundheit! „Werdet trunken“, wie der Prophet sagt,
„doch nicht vom Wein! Taumelt, doch nicht vom Branntwein!“ „Wenn der Tag des Herrn kommt, dann werden
die Berge vom süßen Most triefen.“
Er zitierte die Stellen aus dem Alten Testament in der Sprache der Septuaginta, also altgriechisch, während er
seine eigenen Bemerkungen in der Volkssprache der Neuzeit, der Dimotiki anfügte. Es war nämlich so, dass der
seltsame Heilige zu jenen Sonderlingen gehörte, welche die ganze Schrift, beide Testamente, vollkommen auswendig
können. Man kennt dergleichen aus der östlichen Welt von Derwischen und buddhistischen Mönchen, die ihre heiligen
Schriften in einer Worttreue auswendig wissen, die unseren papierenen Gedächtnissen gar nicht mehr vorstellbar
ist. Obwohl solche Leistungen für sich allein kein Beweis von Gelehrsamkeit oder gar von Heiligkeit sind, war aus
der Schlagkraft und Schärfe, mit der dieser Mönch seine Kenntnis anwandte, auch den Humoren, ohne weiteres zu
spüren, dass es um mehr ging als bloß um Auswendiggelerntes; man spürte die Stöße, man spürte die Schläge,
die von dem Lumpenmanne am unteren Tischende kamen.
Denn er saß am unteren Tischende, aber auf einmal war dieses Tischende oben. Er saß da, das Gesicht von Gräben
durchzogen, die Augen geschlitzt, der Bart verwildert, auf dem Haupt einen Topfhut aus grauem schäbigem Filz, der
eher lächerlich war, und das alles wäre nichts Besonderes gewesen, wenn er nicht diese unglaubliche Freude aus-
gestrahlt hätte.
‚Ich bin ganz Freude, ganz und gar Freude, olo chara, olo chara, darauf kam er in seinen Reden immer wieder
zurück. Hätte ich Grund, das zu sagen, wenn es nicht wirklich so wäre?‘
Dies Letztere war in der Tat ein Argument, an dem man nicht vorübergehen konnte: was hatte ihn und viele andere
Asketen, die uns ähnliches sagten, veranlassen sollen, es zu behaupten, wenn es nicht wirklich so war? Man kann
vielem nicht trauen, was die Menschen so über sich sagen: besonders geht es den meisten durchaus nicht so schlecht
wie sie meinen; sagt einer aber immer wieder mit Nachdruck, er sei glücklich und fühle sich wohl, so wäre es
widersinnig, es besser wissen zu wollen.
„Es freut sich die Sonne wie ein junger Mann, wenn sie ihre Himmelsbahn lauft!“ fuhr er fort, sagt David, und
Baruch sagt: „Die Sterne sind fröhlich, sie glänzen auf ihren Posten vor Freude; es rief sie der Herr, sie antworteten:
„Hier!“ und mit Freuden leuchten sie ihrem Erzeuger.„Freude ist der Äther, der alles verbindet, die Freude
hält Gott und die Schöpfung zusammen; Melancholie ist, was sie voneinander entfernt, Verdrossenheit ist das Fremde.“
„Ich freue mich, dass ich mich freue in dir“, sagt der Psalm. Die Freude ist die Verbindung mit Gott, die Einheit mit
ihm. Der Mensch ist zur Freude, nicht zur Trauer geboren. Warum holt er sich seine Freude von den Abgöttern ?
Glaubt es, Kinder, die lassen sich ihre Freuden bezahlen. Gottes Freude kostet nichts, ich zum Beispiel könnte sie
sonst nicht bezahlen, denn ich besitze nichts auf der Welt. So spreche nicht allein ich, genau wie ich sprechen
alle meine Brüder, die nichts besitzen als Gott. Sie alle sind voller Freude.‘
So sprach der seltene Mann, schnell, mit Bestimmtheit und Schärfe, und von seinen mageren Armen fielen
die Kuttenärmel zurück und entblößten das Fleisch. ‚Auch ich war einst traurig, auch ich kenne den Abscheu,
den Kleinmut, die Leere und die Melancholie, aber das ist lange vorbei.
Ich weiß nur noch von Freude.‘
Er hatte, wie wir später erfuhren, an die zwanzig Jahre als Einsiedler in den Steilfelsen des heiligen Berges,
der sogenannten Eremia, das heißt also : Wüste, gelebt. Als Kind hatte er nicht einmal die Volksschule zu Ende
besucht, nicht einmal die ersten vier Klassen, und konnte kaum lesen. Jetzt aber hatte er ganze Bibliotheken in sich.
Wir hatten in den Tagen zuvor des Öfteren über die Bilderverehrung, also über die Ikonen gesprochen;
das griff jetzt Luvaris auf. Ohne Zögern fing Awakum an, ganze Stellen aus Kirchenvätern zu sagen,
die sich, in offenem Widerspruch zum Alten Testamente und Paulus, zu der Überzeugung bekannten,
dass der Mensch nur in Bildern zu Gottes Herrlichkeit aufschauen könne.
‚Er weiß Dinge‘, bemerkte Luvaris einigermaßen betreten, ‚die sonst nur Universitätsprofessoren bekannt sind.‘
Aber, so hätte er hinzufügen können, die kennen sie meistens ja nur, während jener sie wusste.
Denn er hatte sein Leben gegründet darauf , und er hatte die Folgen gezogen.Er wusste nur das auf der Welt,
was sein Heil ausmachte, und alles andere wusste er nicht und kannte er nicht und hatte er nicht.
Die Wissenschaft aber, die sich von jeher mit der Kenntnis begnügte und im Augenblick des Gedruckten ihre Himmel-
fahrt hat, lässt nichts aus; immer noch mehr, immer noch mehr will sie wissen, und sie zieht keinerlei Folgen daraus.
Nein, um die Menge des Wissens war es diesem Pater ecstaticus bestimmt nicht zu tun; das Wissen des Nicht-
Wissenswerten, das unser aller Besessenheit ist, hatte, soviel war sicher, keinerlei Macht über ihn.
‚Ich habe mich leer für Christos gemacht‘, rief er aus, ‚in mir ist nichts als der Herr. Nichts als der Herr und die Freude!
Die Armut ist schön, denn sie macht leicht, sie macht leer; leer muss man sein, wenn Christos einziehen soll. Ist nicht
das Leere notwendig, wenn Erfüllung sein soll? Das ist doch nicht schwer zu verstehen, oder ist es?‘
Nein, schwer zu verstehen war es eigentlich nicht; ich blickte mich um, es stand auf keinem von allen Gesichtern
etwas von einer besseren Auskunft zu lesen. Eher von Neid, weil die Lösung so einfach, so grenzenlos einfach
und so unendlich weit zurückliegend war, und jeder von uns hatte auf seine Weise versäumt, sie zu finden.
Auf die Frage, wie er zu so inniger Kenntnis der Schrift gelangt sei, erwiderte er : er habe Gott ohne abzulassen gebeten,
ihn zu erleuchten. Aus Eigenem habe er es bestimmt nicht vermocht, dass er nun die Schrift und die Väter
so in sich trage und kenne ; es sei eben eingezogen in ihn.
In der Eremitei habe ihn eines Tages die unbändige Lust ergriffen, zu dienen, der Letzte zu sein, und deshalb
sei er vor einigen Jahren ins Kloster gekommen. Doch schien der Sonderling vom Gehorsam seine eigene
und gesunde Meinung zu haben: er ging überhaupt nicht zur Kirche, schon seit siebenundzwanzig Jahren
nicht mehr, was für einen Mönch, einen Mönch im Kloster, immerhin bemerkenswert war.
Jedermanns Knecht und niemandem Untertan, genau so war es mit ihm.
Hundert Male hatte er dem Abt auf seine Vorhaltungen zur Antwort gegeben:
‚Wenn Christos in mir wohnt und ich in ihm und ich nachtsüber mit Christos rede in meinem unaussprechlichen
Glück, was brauche ich da zur Kirche zu gehen?‘
Was aber das Erstaunliche war: man lies diesen Narren in Christo gewähren, ohne es zu irgendeinem Bruche kommen
zu lassen. Wir fanden, dass dies den Kirchenobern hoch angerechnet werden musste; offenbar hatte man hier zu
Land nur ein geringes Talent zum Ketzerverbrennen: in der Tat hat man in der griechischen Kirche nie, niemals
Ketzer verbrannt. Man fühlte sich also noch immer unverhärtet, noch immer christlich genug, um urchristliche
Christen, wie sie einer Kirche hie und da gnadenweise gesandt werden, unter sich wandeln zu lassen.
So ließ man ihn wandeln, obschon er, wie seinesgleichen von jeher, durch seine bloße Anwesenheit ein Ärgernis war,
das fortwährend alle beschämte: die für sich lebenden, vermögenden Mönche, den würdetragenden Abt,
die neugierigen, nur so auf Probe kommenden Fremden.
Er wohnte erbärmlich; wir sahen es, als wir ihn am nächsten Tage aufsuchten. Es war bestimmt die
allerkümmerlichste Zelle des Klosters, ein windiger Raum, in einem baufälligen Flügel gelegen;
man gelangte über verfallende Treppen, Galerien und Winkel dorthin, so dass ich zu Luvaris
während des Fragens und Suchens bemerkte:
‚Ich glaube, dass wir hier richtig sind, es sieht wirklich so aus, als ob es zu Awakum ginge.‘
Als wir ihm dann irgend etwas auf seine Armut Bezügliches sagten, erwiderte er:
‚Wenn Christos in mir ist, ist Freude in mir; in jeder Höhle wird alsdann Freude sein müssen.‘
Im Kloster war er damit beschäftigt, Raki, den Treber Schnaps herzustellen und auszugeben,
wie er dem ankommenden Gaste zum Willkomm vorgesetzt wird. Wir waren etwas verwundert
als wir von diesem Geschäft des ekstatischen Paters erfuhren, aber auch dieser Zug schmolz
uns schnell in das Bild des Wundermanns ein.
Gern denke ich ihn mir jetzt, während ich lese und schreibe, wie er dort drunten am Ende der Welt
in der dunklen Seitenstube der aufgelassenen Trapeza aus- und einfährt, von vielen gerufen,
immer fröhlich und immer zur Stelle, mit aufgekrempelten Ärmeln hantierend, und wer immer einkehrt
im Kloster, Holz- und Ölarbeiter und Fremde, dem wird ein Raki gespendet, so wie uns damals,
auf dem uralten Steintisch, mit den tröstlichen Worten: ‚Trinkt, trinkt! „Brot stärkt“, sagt der Psalm, „aber der Wein
entzückt unser Herz.“
Soviel war sicher: dieser franziskanische Mensch zog die Mitmenschen an wie eine Heilquelle ; in seiner Gegenwart
erschien alles in einem helleren Licht; es war etwas da, das den Traurigen zwang, seine Nähe zu suchen und sich
einen Anteil von seinem Überflusse an Freude spenden zu lassen.
Nur dass es falsch wäre, ihn in allzu mildem Scheine zu sehen. Denn, wie er so am Tischende des
halberleuchteten Essraumes saß, in der Tiefe der Szene, und man das Gefühl hatte, etwas Vergleichbares
irgendwann irgendwo schon einmal gesehen zu haben, es konnte im Traume gewesen
sein oder auf einem Blatte von Rembrandt, ja Rembrandt, da ja Seher wie er mit den alten Propheten
das Gemeinsamehaben, dass man sie hört und auch wieder nicht hört und dass sie in die Hände der Wechsler,
das hieße in seinem Falle,der Kunstkenner und Historiker fallen - :
wie er so saß, war es gut und auch wieder
keineswegs gut, in seiner Nähe zu sein.
Denn er saß und verteilte die Rollen, er verteilte sie, mit der Freiheit des Knechts, ohne im geringsten zu fragen.
Er warf jedem seine Rolle wie einen Reif über den Kopf und jeder nahm sie entgegen - gerade die Rolle,
die jeder um keinen Preis hätte annehmen dürfen.
Luvaris wurde zum Schriftgelehrten; mit grenzenloser Verwunderung bemerkte ich einen vorher niemals
gesehenen Zug von gelehrter Herablassung an ihm, so als leugne er nicht, dass es möglich sei, dass auch
ein anderer etwas von theologischen Dingen verstünde.
Der Abt seinerseits, großer Herr von Lawra, kam als Würdenträger heraus, als der Prächtige, für den im
Evangelium kein Platz ist, es sei denn der des Empfängers von Steuern und Zinsen.
Und der Sekretär, dessen Finger auf einmal etwas unausstehlich Fettes und Zappliges hatten!
Wie er sich vor Lachen über den komischen Awakum ausschütten wollte! Und dabei war nicht einmal klar,
ob er es nicht in vollen Zügen genoss, dass der geringe Bruder dies und das sagte,
was seinem Dienstherren abträglich war.
Was aber uns andere betraf , so waren Nikodemusse unter uns, die verstummten, und schlafende Jünger, auch.
Thomasse, was ja am häufigsten ist, und insgesamt waren wir alle reiche Jünglinge, viel zu verstrickt in das,
was sie innen und außen besitzen, als dass sie daran denken könnten, ihr Leben zu ändern.
Im Dunkel des Hofs sagte Luvaris: ‚Er kann jeden Gelehrten beschämen. Der arme Mensch ist viel reicher als alle Weisen
und viel klüger als alle Gelehrten der Welt. Er ist wirklich erleuchtet.‘
Ein Christ ist ein seltener Vogel, sagt Luther.
Weit muss man fahren.
Endlich Christentum; endlich einmal keine Theologie.
NOCH EINMAL AWAKUM
Ein Jahr später kam ich ins Lawra Kloster zurück. Es dämmerte schon, und wir hatten Sorge, die Klostertore
noch offen zu finden. Kaum war für die Unterbringung gesorgt, triebs mich nach Awakum auf die Suche zu gehen.
Ich betrat den Seiteneingang des Trapeza-Gebaudes : hier wars doch, hier musste Awakums Wirtschaft doch sein.
Die Halle war dunkel, keine Hand vor den Augen zu sehen. Ich kehrte ins Freie zurück, es war mittlerweile finster geworden. Gegenüber ein Schuppen, darinnen spärliches Licht. Ein paar bretterne Stufen den Schuppen hinauf.
Ich rief aufs Geratewohl: ‚Patir Awakum!‘
Aus der Tiefe kam Antwort. Also wieder die bretternen Stufen hinab, um den Eingang in ein unteres Stockwerk
zu finden, der Schuppen stand einen Abhang hinab. In der Tat ein tieferer Eingang, doch hier erst recht dunkel.
Wieder zurück, um im oberen Stockwerk die Quelle des Lichtscheins zu finden. Mit der Taschenlampe ließ sich
die Außenwand eines ungeheuren Fasses erkennen ; es war offenbar in die Tiefe des Schuppens versenkt
und ging durch das Stockwerk. Eine Leiter war angelehnt und führte zu seinem oberen Rande empor,
ich blickte über die Kimme und sah, nicht ohne Ähnlichkeit mit Johannes dem Täufer in der
Gefangenschaft seiner Zisterne, in der Fasstiefe Awakum mit einer Windlampe werken.
Er fegte und schrubbte. Ich rief: der Deutsche sei wieder da, vom vorigen Jahre, mit Luvaris.
Er rief zurück, das sei recht, das sei gut, ohne es überraschend zu finden; da es auf dem heiligen Berg
wenig Nachrichten und keine Verkehrsmittel gibt, ist alles Gegenwart, alles ganz nah.
Er rief noch, dass morgen Weinernte sei und eine schwere Menge zu tun; der Regen,
der erste nach sechs oder sieben Monaten Dürre, war nämlich in der Lawra vor wenigen Stunden
als kurzer Hagelschlag niedergegangen, nun sollten andern Tags alle Väter mit Sonnenaufgang in den Berg.
Aber er komme in einer Minute, müsse mir doch Raki einschenken, eine Minute. Alsbald erschien
denn auch überm Fassrand ein struppiges Asketengesicht,vom Schein eines Windlichts umzuckt :
die Erinnerung an den emportauchenden Jochanaan drängte sich abermals auf .
Wir umarmten uns, das Bartzeug stach mich wie damals ;
ich hatte ihn nämlich im Vorjahr in momentaner Rührung
umarmt, ohne zu wissen, dass Habakuk die Umarmung
bedeutet. Er war vom Geruch des Fasses umwölkt.
Wir waren von zehn Wegstunden einigermaßen erschöpft und bekamen mehrere Rakis und ein kandiertes
Birnenkompott, das er selbst gemacht hatte und aus irgendwelchen Höhlungen kramte.
Wir lobten es sehr. Er meinte, ich hätte doch schon zum Gipfelfest der Metamorpbosis im August
kommen wollen; ich erwiderte, wir wollten erst hin. Da brauchten wir kein Wasser mit hinaufzunehmen,
versicherte er, was die Leute auch sagten; er habe nämlich im vorigen Sommer die Zuläufe zu beiden Zisternen,
der Panagia-Zisterne und der auf dem Gipfel, wieder in Ordnung gebracht und es gebe jetzt Wasser.
Am andern Morgen, als wir uns von ihm verabschieden wollten, trafen wir ihn in voller Tätigkeit an.
Er hatte jetzt Bretter in eine obere Zone des Passes gefügt, ein Maultier nach dem andern traf ein,
jedes mit zwei Bütten beladen; auf dem Bretterrost häufte es sich zu gewaltigen Traubengebirgen.
Panagias Segen sei das, rief uns Awakum zu ; ich nahm es zur Kenntnis, dass die Muttergottes es ist, die den Wein gibt ;
Gott Vater wird nicht in allen Fällen bemüht.
Mit mageren, bloßen Beinen stampfte Awakum über den Traubenberg, sich an Seilen festhaltend,
die er in Höhe erhobener Arme über sich ausgespannt hatte; der Most rann zwischen den Bretterlücken hindurch.
‚Kilometer werden das sein, die du gehst bis zum Abend', rief ich ihm zu, aber kaum dass er sich Zeit nahm,
mit der Hand die Schaufelbewegung zu machen, die auf griechisch bedeutet : allerdings, allerdings !
Es war eine viel zu schwere Arbeit für den schwächlichen Mann. Aber er ließ sichs nicht nehmen.
Er hatte, kaum dass er unser ansichtig wurde, in dem Gebirg unter sich nach ein paar besonders schönen Trauben
gesucht; um sie richtig zu sehen, hielt er sie dicht an die Augen. Mir war mit einem Mai deutlich, wie sehr von
Entbehrungen und Anstrengungen dieser Körper hergenommen sein musste. Ein Maultiertreiber wurde nach
zwei Brotlaiben für uns geschickt. Das war das letzte, was Awakum für uns tat.
Werde ich den seltsamen Mann je wiedersehen? Nicht wahrscheinlich. So will ich ihn auf der Kelter stampfend
im Gedächtnis behalten.
Der Gouverneur, der meine Neigung zu Awakum kannte und teilte, hatte erzählt, irgendwo in der Eremia habe
Awakum allein mit seinen Händen eine Kirche gebaut; ich war davon einigermaßen berührt, weil, was wahrscheinlich
weder dem seltsamen Heiligen noch dem Gouverneure bewusst war, die Legende von Franziskus dasselbe erzählt
und weil Awakum aus des Franziskus Geblüt war.
So ließen wir uns es der Mühe wert sein, Awakums Kirche zu suchen; unweit des Rumänen-Klosters Prodromos sollte
es sein. In Prodromos zeigte man uns den kleinen Kirchenbau vom Balkon aus. Mitten in die wüsteste Wüste also
hatte der seltsame Mann seine Kirche gesetzt, auf eine öde Hochfläche, die nur von niedriger Steineichen-Macchia
besetzt war, darüber die Felsen des Athos Gebirges. Nachdem wir uns durchs Stachelgebüsch ohne Weg gekämpft
hatten, gingen wir um das Bauwerk herum, bewunderten alles, den schönen Verputz, drückten die Holztür, in deren
zwei Flügel eine Kette gehängt war, eine Handbreit auf, sahen, dass die Wände im Innern noch unverputzt waren,
aber es hingen schon die Ikone, die er auch selbst gemalt haben sollte. Durchs kleine Fenster sahen wir den Teller
mit geschnittenem Brot, welches am Ende der Liturgie an die Gläubigen ausgeteilt wird, dabei eine Flasche mit
Wein; wie es zum sorglosen Stil dieses Landes nun ein- mal gehört, war noch das Kakao-Likör-Etikett einer Firma
aus Thessaloniki daran. Hellgrüne Rosmarinbüsche waren im Umkreis gepflanzt. Verblühte Zistrosen und neuer,
schon aufgeblühter Safran.
Ein paar hundert Meter entfernt begann der jähe Absturz der rostroten Felsen zum Meer, die Südküste,
die Eremia, die Einsiedelei. Hier also hatte der besondere Mann ein Menschenalter gelebt und sich aus der Schrift
und den Vätern seine lebendige Botschaft gezogen, von der er nun völlig gebeizt war, durchdrungen,
nichts anderes in ihm und außer ihm. Um zu hören, hatte er sich ganz und gar in die Schanze geschlagen, das heißt : in die Möglichkeit, in die Hoffnung.
- Erhard Kästner, Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos
- Es gibt kein Foto von Patir Awakum. Unser Bild zeigt St Paisios,
einem anderen bekannten heiligen Athosmönch
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