'Spirtual Bypassing' - Falsches Ausweichen im Namen des spirituellen Weges'
Ein Freund schrieb: In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedacht, was du vor einiger Zeit zu mir gesagt hast - dass wir in unserer spirituellen Praxis die Ebene der Person
nicht überspringen können. In den Lehren Bhagavans erkenne ich sozusagen verschiedene Ebenen des Ausdrucks der Wahrheit. Auf der höchsten Ebene, der absoluten Ebene, gibt es definitiv keine
Person, alles ist Gott, alles ist vorherbestimmt, alles ist perfekt. Aber können wir ehrlich sagen, dass wir nur auf dieser Ebene leben? Ich weiß, dass ich das selbst nicht behaupten kann. Die
meiste Zeit scheine ich als Mensch in der Welt zu leben, Entscheidungen zu treffen und zu versuchen, das Richtige zu tun.
Ich habe auch einige Momente dieser höheren Realität erlebt, und das war sehr schön. Danach strebe ich, und ich hoffe natürlich, dass ich mich mit der Zeit mehr und mehr darin verankern kann.
Aber ich glaube, das ist ein allmählicher Prozess, und in der Zwischenzeit tue ich mein Bestes, um die richtige Entscheidung zu treffen und die Person so gut wie möglich zurechtzurücken.
Ich weiß, dass viele Menschen in der Bhagavan-Gemeinschaft damit nicht einverstanden sind und meinen, dass ich meine Zeit damit verschwende, der Ebene der Person Aufmerksamkeit zu schenken, weil
sie letztlich nicht real ist.
Wenn ich mit den Leuten in der Gruppe darüber spreche, sagen sie mir, dass es falsch sei, dieser Ebene überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken, und dass ich die ganze Sache einfach vergessen und
mich nach innen wenden sollte.
Reinhard: Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Sehen wir es einfach: Hätte Bhagavan jemals gesprochen oder gelehrt, wenn "niemand" vor ihm gesessen und ihn um Führung gebeten
hätte?
Dies ist eine klare Wasserscheide zwischen dem, was ich gerne als "Kopf-Advaita" (head-advaita) bezeichne - ein religiöser und philosophischer Dogmatismus mit wenig Bezug zu dem, was wir
tatsächlich leben.
Die Art und Weise, wie ich an die Sache herangehe, ist ein "Bottom-up-Ansatz": Man beginnt mit der Ebene der eigenen Erfahrung und zielt auf das Höchste. Ein "Top-Down-Ansatz" ist ebenfalls
erforderlich - das sind die Lehren, wie sie in den Büchern stehen.
Aber diese Konzepte ohne die Erfahrung von Samadhi zu behaupten, ist nur trockenes Begriffsdenken! Da ich immer an VERWIRKLICHUNG interessiert war, anstatt Bhagavan nur emotional zu verehren und
zu philosophieren, musste ich mich selbst und die Schüler, mit denen ich arbeitete, fragen, was sie in ihrer eigenen Erfahrung verwirklichen konnten.
Das Schöne ist: DHARMA ist universell und auch universell präsent, ob wir erleuchtet sind oder nicht. Das wurde von Bhagavan wiederholt gesagt. Deshalb betone ich in meinem Satsang das Sein und
Gewahrsein, indem ich die Gedanken und Emotionen wie Bäume am Straßenrand erkenne, die helfen, den Weg zu zeigen, den die Straße nimmt.
Wir hatten gerade ein Wochenend-Retreat, und ich kann gar nicht recht beschreiben, welche Kraft und Freude die Kontemplation dieses Dharmas direkt in unserer Erfahrung hervorruft!
Nicht viele Menschen sind an echtem Sadhana interessiert! Sie erfreuen sich lieber an philosophischen Konzepten und Emotionen. Annamalai Swami nannte diese Menschen "Zecken": Sie trinken nicht
die Milch der Kuh, sondern saugen ihr Blut. Sich tatsächlich hinzusetzen und dem eigenen Geist zu begegnen, ist eine große Aufgabe, und es braucht ein gutes Verständnis und viel Ausdauer, wie wir
beide wissen!
Die Leute, die du erwähnst, die sagen, dass man "vergessen und sich nach innen wenden" sollte, haben das wahrscheinlich nie ernsthaft getan!!! Denn wenn du das tust, wird dir eine gewaltige
Aufgabe offenbart: die inneren Kräfte wirklich dem Selbst zu überlassen! Bhagavan hat dies einmal ausgedrückt, indem er sagte: Wenn ihr den natürlichen Zustand wiedererlangen wollt, ist ein
gewaltiger Kampf unvermeidlich.
Der amerikanische Lehrer Adyashanti prägte einen sehr passenden Begriff für unsere Diskussion. Er sagte, wenn Menschen versuchen, persönliche Themen zu überspringen und sich auf spirituelle
Konzepte zu fixieren, ist das 'spirituelles Bypassing'. Natürlich ist die Persönlichkeit letztlich nicht real, aber sie ist auch der einzige Fokuspunkt für die spirituelle Praxis! Wenn wir die
persönliche Realität willentlich ignorieren, hat das nichts Spirituelles, sondern ist eine Form von Eskapismus und Härte. Es ist nur die totale Harmonie des Selbst, die die Person befreien kann
und nicht die Unbewusstheit und Widersprüchlichkeit des persönlichen Willens.
Nur wenn wir uns mit persönlichen Themen um ihrer selbst willen befassen und versuchen, nur unsere Wünsche zu befriedigen, ist es Zeitverschwendung. Bhagavan verglich dies mit dem vergeblichen
Versuch, ein Feuer mit Kerosin zu löschen. Aber wenn ein Verlangen zum Beispiel die Stille des Seins spürt, wird es natürlich danach suchen, anstatt auf seiner eigenen Ebene zu handeln. Das ist
es auch, was Bhagavan gelehrt hat.
Worte können in verschiedenen Bedeutungsnuancen verwendet werden. Aber wenn jemand mit Liebe und Gewahrsein lebt, frei von Leiden, dann spricht das für sich selbst. Deshalb sagte Christus,
'An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.'
Er hat nicht gesagt: An ihren Worten …
Mit Liebe,
Reinhard
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